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China Inside - Knuts Einblicke
Das private Totenfest einer NationMeine studenten haben mich ein wenig erleichtert; ich bin offensichtlich einer veränderten großwetterlage zum opfer gefallen und habe derzeit nicht alleine mit kopfschmerzen und übler laune zu kämpfen. Sie meinten, dass sich der frühlingsbeginn jedes jahr auf diese weise bemerkbar machen würde. Wetterfühligkeit, tsts... und das in dieser hochtechnologisierten zeit. Vielleicht war auch meine restliche wahrnehmung auf sensibel eingestellt, denn nach ende meines unterrichts bemerkte ich, dass sich alle tummelten, in die mensa zu kommen, und schnappte „shíèr diǎn bàn zài jiàoshì!“ auf. Da wollte ich natürlich wissen, woher die ungewöhnliche aufregung rührte und erfuhr von ein paar nachzüglern, dass sich alle um 12uhr 30 im klassenzimmer treffen würden, um gemeinsam den „heros“ zu gedenken. Die heros stellten sich mir nach unermüdlichem nachbohren als cn. gefechtsverluste des zweiten weltkrieges dar. Die übersetzung verzerrt wie immer ein bisschen. Kurz überlegt schloß ich mich der klasse 专2 an und saß wenig später mit 25 bei jeder
strassenunebenheit (und derer gibt es hier viele) kreischenden mädeln und einem
burschen in der kleinbuslinie 2. das weibsvolk war einheitlich in blaugelbe
sportanzugjacken gekleidet (auf den kleidungsstil sollte ich weiter unten noch
einmal zu sprechen kommen), während der der einzig männliche klassenkollege im
grauen anzug neben der bustür platz genommen hatte. Er ist monitor; so betitelt
man ihn hier. Monitor passt auch besser, denn die befugnisse dieser personen übersteigen
diejenigen unsriger sog. Klassensprecher bei weitem. Abgesehen davon gibt es in
westlichen ländern an der uni keine klassensprecher, oder? Die frauenquote wird
auch nicht eingehalten, man stelle sich das nur vor! So ungerecht! Obwohl 90
prozent der sprachstudenten weiblich sind, haben mehr als 90 prozent der
monitore keine hormonprobleme. Ja, ich bin auch ein alter sexist. Ich verlaufe mich wie immer in anderweitige themen...
also wie ich in diesem bus sitze und durchgerüttelt werde, mir
allerdings nicht sicher bin, ob nicht die akustische penetration durch
die frauenkehlen irritierender ist, starre ich wieder einmal in mein narrenkastl
und frage mich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, dem Falun Gong vortrag
beizuwohnen. Irgendwas ist ja wirklich eigenartig- derzeit. Ich bin hier noch
nie in der situation gewesen, mich zwischen zwei veranstaltungen entscheiden zu
müssen. Nachdem nämlich der männliche! monitor das gegackere seiner
weiblichen untergebenen eindämmt hatte, um das procedere für den ausflug zu
erklären, fragte er im anschluß daran nach acht freiwilligen, die sich als
abgetrennte klasseneinheit einen vortrag zu diesem thema anhören müssen. Natürlich
nicht als information über, sondern gegen Falun Gong werde ich aufgeklärt.
Warum frage ich auch so blöd nach. Entschieden ist entschieden. Ich sitze im bus und
der fährt richtig weit, vorbei am bahnhof, den ihr vielleicht schon aus meinen
letzten schilderungen kennt, also zuerst richtung osten, dann weit in den süden
der stadt. Die gegend kommt mir bekannt vor, und ich erinnere mich, im november
hier den buddhistischen tempel besucht zu haben. noch immer ein wenig im
unklaren, was ich denn überhaupt besichtige, besser an welcher
kollektivveranstaltung ich hier teilnehme, werden mir beim eintreten in ein
parkartiges gelände die augen geöffnet. Weißgekalkte grabsteine soweit das
auge (ich bin kurzsichtig) reicht, rote kommunistensterne an jeder ecke: ein
soldatenfriedhof. Noch auf der daran vorbeiführenden strasse sehe ich drinnen
eine uniformierte gruppe bei einem denkmal eine blumen-ablege-zeremonie
einstudieren. Vier mann stakken die paar stufen zum schrein, ich meine
kriegerdenkmal hoch und stellen dort jeweils zu zweit einen etwa ein meter hohen
blumenkorb aus draht und buntem kreppapier ab. Der choreograph brüllt. Die
nicht involvierten kollegen lachen. Nur kurz. Während wir die gräber
abschreiten sagt mir eine studentin, dass morgen ein feiertag sei -Der 5.april
also, das muß ich mir notieren- an dem ab sechs uhr morgens viele chinesen
hierher kommen würden. Heute wären nur schüler und studenten hier. Auch gut.
Wir kommen zur hinterseite des oben erwähnten dankmals und schauen den
uniformierten zu. Ich will wissen, wann der offizielle akt denn stattfinde und
freue mich, da ich nur bis 14uhr warten muß. Die anderen kolleginnen trudeln so nach und nach vor
dem denkmal ein, schauen den einstudierenden ebenfalls zu. Ich setzte mich ab,
unwiderstehlich von zwei monumenten angezogen, die beiderseits des denkmals
prangen. Beide sind von gleichem ausmaß, etwa sechs meter lang, zwei meter
breit und fünf meter hoch, in hellbeigen stein gehauen und sind nach vorne,
richtung haupteingang des parkes gerichtet, also den eintretenden besuchern
entgegen strebend. Das linke zeigt vorwärtsstürmende soldaten, die beinahe wie
ein schiff ihren bug dem betrachter entgegensteuern und ihn (oder den imaginären
nicht-cn. feind) mit ihren groben waffen unhaltbar im fahrwasser verschlingen.
Das rechte sieht ganz ähnlich aus, allerdings fällt mein blick im gegensatz
zum anderen gebilde nicht auf die waffen, sondern zuerst auf die augen der
dargestellten personen. Stechende, für asiaten abnormal große augen stieren
anstatt der waffen nach vorne. Der kollektiv gebannte blick in die zukunft?
Wohin auch immer. beim zweiten monument sind die abgebildeten nicht solaten,
sondern zivilisten der verschiedensten professionen. Ich sehe einen bauer, einen
studenen, eine wirklich europäisch aussehende frau, die wie die französische
Madeleine[1]
über allen anderen, eine hand nach vorne gereckt, thront, und einige mehr. Alle
haben für mein gefühl zu kräftige leiber; die muskulöse körperfülle
strahlt etwas tierisches aus. Mensch, du bist hier gut getroffen! Nachdem ich die beiden brocken mehrmals umrundet
habe, kehre ich zu meiner klasse zurück, die inzwischen am platz zwischen
meinen betrachtungsobjekten und vor dem denkmal in zweierreihe aufstellung
genommen hat. Zwei weitere klassen haben sich, ihre gemeinschaftsflagge vor sich
hochhaltend, hinzugesellt, mehrere weitere haben in einiger entfernung halt
gemacht, ebenfalls ein banner vor sich spannend. Ich frage einen der monitore,
warum diese studenten dort stehen bleiben würden, und er erläutert mir den
ablauf des gedenken an die gefallenen helden chinas. Inzwischen treffen zwei
busse der städtischen polizei ein, alle in die gleiche dunkelblaue uniform
gekleidet, silberne, glänzende zahlen auf der brust tragend, mit nummer 030858
und 030563 konnte ich persönlich kontakt aufnehmen, auf dem hübschen sticker
auf der rechten schulter lese ich jǐngchá, polizei. Natürlich im
lateinischen pīnyīn[2]
geschrieben, cn schriftzeichen sind bei den hütern des gesetzes, beim verlängerten
arm des staates nicht mehr zu sehen. Nur so geht´s! Wenn man eine sprache
abschaffen will, dann muß man bei den direkt untergeben anfangen, wo sonst, hm?
Also alle sehen aus wie die blumen-ablege-zeremonie-einheit. Aha, denke
ich mir, die gehören zusammen. Es wird ernst für den Choreographen und seine
truppe. Dieser weist die neu eingetroffenen ein und schreit: Yī! Èr! Sān!
Sì! Begleitet von der übung wie man sein käpple in vier arbeitsgängen
standesgemäß von der rübe entfernt und dann in weiteren vier schritten wieder
draufpflanzt. In der letzten reihe erwische ich einen beim grinsen. Na, so was
respektloses! Der rest renkt die brust raus, stillgestanden, rübe links,
gradeaus und Yī! Èr! Sān! Sì! Gar nicht so schwer, nach drei durchgängen
sitzt das programm im kurzzeitgedächtnis. Action! unerwartet schreitet der choreograph auf das
podest vor dem denkmal und entpuppt sich als staffelkommandeur. Er brüllt seine
kommandos ins mikro und beginnt eine rede zu schwingen, von der ich natürlich
nichts mitbekomme. Sein cn erscheint mir jedoch nicht sehr flüssig.....immer
diese arroganten ausländer! (selbstkritik steht in cn hoch im kurs.) lahmes
geklatsche am ende. Die studenten schauen auch eher gelangweilt zu. Lóng xiào
huá, arbeitseifrige financial monitorin, also gemeinschaftskassen-verwalterin,
der klasse 2004, meint, ich sollte ebenfalls in der zweierreihe aufstellung
beziehen, um den verstorbenen zu gedenken. Weitere studenten machen mir platz,
doch ich lehne mit den worten „bei uns gedenkt man nur nahen verstorben
familienmitgliedern oder guten freunden“ ab. Lóng xiào huá, die mir schon
des öfteren mit bedenklich nationalistischen bemerkungen aufgefallen ist, drängt
mich weiter und meint, mir dabei ernst ins gesicht blickend, sie glaube, man müsse
verstorbenen helden ehre und respekt erweisen. „kollektives gedenken
unbekannter ist mir ein kulturelles fremdgut“ erwidernd bekräftige ich meine
absage, worauf sich Lóng xiào huá ein anderes betätigungsfeld sucht. Warum
auch mit ausländern die zeit verschwenden, wenn im eigenen land soviel
fruchtbare erde auf einen pflug wartet. Mittlerweile hat ein kleines in zivil
gekleidetes männlein dem kommandeur folgend eine rede gehalten, der die
kreppblumentopf-niederlegung folgt. Leicht an Titanic erinnernde hymnenartige
musik erschalt von stereo-positionierten mono-lautsprechern. Leider nur kurz. hält
mitten im nationalen gefühlsfluss an. Echt schleissig, denk ich mir, da könnte
man viel mehr draus machen. Die menge so richtig aufpeitschen, zum rasen bringen...aber
hier wird ja nur für den ernstfall geübt. Dafür entzücken mich die
polizisten, die zum abschluss ihre Yī! Èr! Sān! Sì! Nummer abziehen und ihre rechte hand
zur faust geformt an die rechte schläfe hebend in eine weiter hymne einstimmen.
Ich frage die um mich stehenden studenten, was es mit dieser gestik auf sich
habe. Es handle sich nur um einen weiteren gruß „wie den da!“ meint eine,
mir den zeige-, mittel- und ringfinger zum dreizack geformt entgegenstreckend. Yǔ
lì, der immerfreundliche physical education monitor der klasse 2003, lächelt
schelmisch und raunt sich bekreuzigend „the communistic...“. Ohne zweifel
war das der höhepunkt meines tages, wenn nicht sogar meines bisherigen cn
aufenthaltes. Weiße kreppapier-ansteckblumen werden verteilt. Ich
steck mir auch eine an. Besser unerkannt mitschwimmen. Und nachdem der
stadtaufsichtstrupp in den bau nebenan, der einer leichenhalle ähnlich seiend
ein kleines museum mit reliquienartigen gegenständen (decken, tagebücher,
photos der freundinnen, schreibzeug, etc) der gefallenen und deren lichtbilder
mit angeschlossener kurzbiographie beherbergt, abgezogen ist, übernehmen meine
studis deren aufstellung, und -wer sonst?- Lóng xiào huá beginnt ihre rede
vorzutragen. Ihre worte verstehe ich wiederum nicht, aber um ihre ergriffenheit
zu spüren brauche ich den sinn nicht. Ich stehe ein wenig abseits und schaue
ihnen zu, wie sie dastehen, alle in ihren sportjacken. Uniform für den staat,
anzug für die wirtschaft, sportanzug für die studentenschaft. Nur die monitore,
zumeist wie bereits erwähnt männlich, heben sich vom blau-gelben einheitston
ab, irgeneine zivile kleidung tragend. Während dieses vorganges strömen durchs
haupttor sicher an die 200 mittelschüler, ebenfalls in gleichartigen sportanzügen,
auf den trainingshosen groß CHINA aufgedruckt, ebenfalls ein banner vor sich
herlanzierend, und nehmen hinter den studis in zweierreihe aufstellung. hier
kann ich einfügen, was mir zuvor zum ablauf gesagt wurde. Die polizisten haben
begonnen, worauf jeweils eine größere gruppe das gleiche ritual mit rede,
kreppblumentopf-niederlegung, abgehackter hymne und bedächtiger
augen-zu-boden-gedenk-minute durchläuft. Um das ritual der einen gruppe nicht
zu stören, wartet die nächste in geziehmtem abstand. Die weissen ansteckblumen werden wieder eingesammelt
und wir durchschreiten ebenfalls die gedenkhalle. Zügig, denn im steinbau ist
es kalt. Draussen glaube ich heimfahren zu können, doch jetzt beginnt erst die
offizielle grababschreitung, die noch ein schmankerl zu bieten hat: aus einem
großen plastiksack werden erneut weisse kreppblumen ausgeteilt, deren drahtiger
stiel, so wird mir beigebracht, um die zwischen den gräbern wachsenden sträucher
zu wickeln ist. Auf diese weise verwandeln sich die fahlgrünen, mageren gewächse
in kürze in blütentragende frühlingstriebe. Unzählige schüler und studenten
schwärmen durch das gelände und lassen ihre botschaft des gedenkens, des
respekts und der ehrerbietung wie löwenzahnsporen in der landschaft hängen. Beinahe wirklich berührt, den kopf ob dieser die
gefühle der menschen missbrauchenden inszenierung schüttelnd, fahre ich mit
linie 2 wieder heim und schlage sofort nach. Welchem fest habe ich überhaupt
beigewohnt? 清明节,
Qīngmíngjié, das fest des hellen lichts, finde ich da heraus. Ein uralter,
traditioneller cn feiertag, der entweder auf den 4. oder auf den 5.april fällt
und nach dem cn mondkalender einer der 24 jahreseinteilungstage ist. Qīngmíngjié,
das fest „helles licht“ oder „totenfest“, diente ürsprünglich dem
gedenken der verstorbenen vorfahren. Sofern vorhanden, werden die gräber
aufgesucht und dort gelbes papier verbrannt, welches geld symbloisierend den
toten zugute kommen soll. Den toten frage ich mich, wo denn, im cn Hades? Es
wird also doch an ein leben nach dem tod geglaubt? Und wirklich sehe ich am
selben tag von einer essbaracke heimgehend kleine feuerstellen an jeder straßenecke
flackern. Menschen knieend darübergebeugt, mit hölzern in der glut
herumstochernd, dem durst der flamme mit frischem gelben papier erneute nahrung
gebend. Und da soll noch einer sagen, die cn seine atheisten. Vonwegen. Ich verliere mich in weitere gedanken...ich beginne die kommunistischen ideologen zu bewundern. Da müssen wirlich ein paar geniale köpfe am parteiprogramm, an der implementierung der kommunistischen doktrin in die gewachsene cn geschichte gearbeitet haben. ein ursprünglich privates, quasi-individuelles fest zum gedenken an den engsten familienkreis, also ähnlich dem ö allerheiligen und allerseelen, wurde, die konzeption nicht berührend, in ein fest zum gedenken an die gesamtheit der vorfahren des cn volkes umgewandelt. Es wurde die emotionale verbundenheit von de facto zutiefst religiösen menschen zu ihren verschiedenen leiblichen verwandten ausgenutzt, um eine verbundenheit mit der „größeren“ gemeinschaft, der nation, zu erzeugen. Ähnlich wie wenn man zwei bereits parallel geschalteten, einzelnen stromzellen noch einen haufen anderer hinzuhängen würde, um ein großes netzwerk von gleichgeschalteten energiereserven zu etablieren. Aber wozu diese zwanghafte akkumulierung von energie? Die muß doch irgendwann entladen werden. Ansonsten würde man ja nicht die ganze mühe auf sich nehmen. Aber dazu vielleicht ein anderes mal. [1] Verrät diese in stein verewigte dame gar das wahre gesicht des cn. kommunismus? ein indiz für die inhaltliche übereinstimmung zwischen religiöser und politischer doktrin? Ein zermürbendes urteil für dieses volk: der kollektiven bewußtseinsentwicklung (gibt es so was?)Europas um mindestens 200 jahre hinterherhinkend. [2] Pīnyīn heißt wörtlich übersetzt „laute zu silben verbinden“ und ist die mit lateinischen buchstaben verfasste lautschrift für cn. schriftzeichen. Sie wurde in den fünfziger jahren in cn eingeführt und sollte über kurz oder lang die schriftzeichen ersetzen. so wurden zb 1977 alle cn ortsnamen einheitlich ins Pīnyīn übertragen. Und obwohl man versucht überall zu vereinheitlichen, wird der transformationsprozess eher lang dauern. die gründe hiefür würden einen eigenen text füllen. Nur ein interessantes detail: das zentralistische bildungssystem hat es immerhin schon zustandegebracht, dass alle cn. zuerst Pīnyīn erlernen, und später darauf aufbauend die der aussprache entsprechenden schriftzeichen. Dies erklärt auch, warum studenten heutzutage englisch leichter erlernen als früher.
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